Zwergplanet Pluto in Echtfarben fotografiert von New Horizons

Fünf Jahre New-Horizons-Vorbeiflug am Pluto

Chronik einer Supermission

Vor fünf Jahren flog am 14. Juli 2015 die kleine US-Raumsonde New Horizons durch das entfernte Pluto-Charon-System. Während der Passage führte sie einzigartige wissenschaftliche Messungen durch und sandte aufsehenerregende Bilder zur Erde, die eine bewegte Vergangenheit und unerwartet dynamische Entwicklung des sonnenfernen Binärkörpersystems enthüllten.

Ein Anlass, zum fünften Jahrestag des Plutovorbeiflugs eine Rückschau auf diese einzigartige raumfahrttechnische Meisterleistung und die wissenschaftlichen Erkenntnisse einer herausragenden Mission zur Erforschung von eisigen Himmelskörpern am äußeren Rand des Sonnensystems zu halten. Beim Radioexperiment REX auf New Horizons sind deutsche Planetenwissenschaftler beteiligt.

Zwergplanet Pluto in Echtfarben fotografiert von New Horizons
Credit: NASA/JHU-APL/SRI

Als am 18. Februar 1930 der amerikanische junior astronomer Clyde Tombaugh (1906-1997) am Lowell-Observatorium in Flagstaff, Arizona, ein lang gesuchtes Objekt, den suspekten Planeten X, jenseits des Neptun fand, hatte er die Entdeckung seines Lebens gemacht. Dieser neue, der neunte ‚Planet‘ und mit einem Durchmesser von knapp 2.400 Kilometern relativ kleine Himmelskörper, der bald darauf den Namen Pluto bekam, war jetzt gewissermaßen der planetare Außenposten unseres Sonnensystems – eine Rolle, die seit 1846 bisher Neptun innehatte. Und dies blieb Pluto bis zum Jahre 1992, als man auf dem hawaiianischen Mauna-Kea-Observatorium mit (15760) Albion ein noch weiter als Pluto entferntes transneptunisches Objekt (TNO) aufspürte, einen kleinen unregelmäßig geformten Körper mit nur 100 bis 150 Kilometer Durchmesser. In rascher Folge entdeckte man weitere TNOs, deren Zahl bis heute auf mehr als tausend angewachsen ist und die für Planetenforscher aufschlussreiche naturgeschichtliche Archive darstellen, aber auch zahlreiche neue Fragen zur Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Sonnensystems aufwerfen.

 

Der lange Weg der NASA-Mission New Horizons vor dem Start und bis ans Ziel

Seit Plutos Entdeckung dauerte es rund ein halbes Jahrhundert, bis die NASA ins Auge fasste, den (Zwerg-)Planeten am Rande des Sonnensystems mit einer kleinen Raumsonde anzufliegen und zu erkunden. Dafür mit auschlaggebend war gewiss auch die Entdeckung des Plutomondes Charon, der dem amerikanischen Astronomen James W. Christy am US Naval Observatory im Juni 1978 auf hochauflösenden Fotografien als eine Ausbuchtung des Plutoscheibchens auffiel und die periodisch in 6,4 Tagen um das Bildzentrum wanderte. Charon ist mit einem Durchmesser von 1.212 Kilometern und einem Achtel der Masse Plutos ein vergleichsweise großer und massereicher Trabant seines ‚Planeten‘, weshalb häufig vom Doppelkörpersystem Pluto-Charon gesprochen wird.

Doch erst im Dezember 2000 hatte sich eine Missionsvorschlag soweit konsolidiert, das nicht nur in den Köpfen, sondern auch ‚mechanisch‘ eine Sonde fertiggebaut wurde: New Horizons – ein Name, der dem Leiter der Mission, Alan Stern, während einer Gebirgswanderung einfiel, als er seinen Blick von einem Berg zum Horizont schweifen ließ. Nach gut weiteren fünf Jahren war es dann soweit: New Horizons wurde am 19. Januar 2006 von Cape Canaveral aus zum Pluto gestartet. Im Juli 2015 erreichte die Sonde schließlich ihr Ziel; ein Start, knapp einen Monat später, hätte die Ankunft der Sonde um fünf Jahre (!) verzögert.

 

Masse, Beschleunigung, Astronomie: ein Wettlauf gegen die Zeit

Die unzähligen Schritte der Überzeugungsarbeit und vielfältigen Entscheidungen, bis eine Mission an der Spitze einer Trägerrakete auf dem Startplatz steht und der Countdown gezählt wird, sind meist schwieriger zu meistern, als die Planung und technische Umsetzung der wissenschaftlichen Experimente. Am Ende war es ein astronomischer Aspekt, der New Horizons schon am Boden ‚beschleunigte‘: Pluto hat eine stark exzentrische Sonnenumlaufbahn, deren sonnennächster Punkt bei 4,5 Milliarden Kilometern Entfernung liegt. Diesen hatte der Himmelskörper 1989 durchlaufen und sich seither wieder vom Zentralgestirn entfernt. Ihr sonnenfernster Punkt befindet sich nämlich in einer Distanz von 7,4 Milliarden Kilometern, und für einen Sonnenumlauf benötigt Pluto 248 Jahre. Eine weitere Verzögerung hätte also eine immer längere Reisezeit zu Pluto bedeutet, aber auch wissenschaftliche Einbußen mit sich gebracht. Denn mit zunehmender Entfernung zur Sonne wäre die hauchdünne Atmosphäre Plutos kondensiert und als Eis auf die Oberfläche gerieselt, hätte also nicht mehr untersucht werden können.

Um Pluto überhaupt erreichen zu können, durfte die Sonde nur sehr wenig Masse haben. Inklusive Treibstoff waren es keine 500 Kilogramm. Darüber hinaus wurde die Atlas-Trägerrakete mit einer zusätzlichen Schubstufe versehen, die New Horizons auf eine Fluchtgeschwindigkeit von 16,21 Kilometern pro Sekunde (58.356 km/h) beschleunigte, der höchsten Geschwindigkeit, mit der eine Raumsonde je die Erde verlassen hatte. Nach der neuneinhalb Jahre langen Reise, mit einem Swingby-Manöver am Riesenplaneten Jupiter zur weiteren Beschleunigung der Sonde, flog New Horizons dann vor fünf Jahren am 14. Juli 2015 um 13.50 Uhr MESZ, etwa 4,8 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt, in einer Distanz von weniger als einem Erddurchmesser über Plutos Oberfläche hinweg und an seinen Monden vorbei.

 

Das Kamel schießt durchs Nadelöhr: Durch die Bahnebene der Plutomonde

Plutos größter Mond Charon
Credit: NASA/JHU-APL/SRI

New Horizons musste fast senkrecht durch die Ebene fliegen, in der die Monde Charon, Nix, Hydra, Kerberos und Styx Pluto umkreisen. Bei der Planung war dies ein Aspekt großer Unsicherheit: Denn es hätten sich weitere, noch unentdeckte Monde oder Eis- und Gesteinsringe in dieser Ebene befinden können, die teleskopisch nicht entdeckt und zur Gefahr werden konnten. Beobachtungen wenige Tage vor dem Flyby sorgten für Erleichterung: Die Aufnahmen zeigten keine neuen Hindernisse. Für den Vorbeiflug war in jahrelanger Programmierarbeit jede Beobachtung und Messung auf die Sekunde festgelegt: Binnen weniger Stunden kamen sieben wissenschaftliche Bordexperimente zum Einsatz. Neben drei optischen Geräten, dem UV-Spektrometer ‚Alice‘ sowie den hochauflösenden Kamerasystemen LORRI und ‚Ralph‘, nahmen die beiden Plasma-Instrumente PEPSSI und SWAP, der Staubdetektor ‚Venetia‘ und das Radioexperiment REX eingehende Messungen an dieser fernen, eiskalten Welt vor. REX ist das einzige Instrument auf New Horizons, an dem mit den deutschen Planetenforschern des Rheinischen Instituts für Umweltforschung an der Universität zu Köln deutsche Wissenschaftler beteiligt sind (siehe Kasten). Finanziell gefördert wurde ihre Beteiligung vom Raumfahrtmanagement des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) mit Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie.

 

Ein Herz aus Eis, schlammiger Bodenbelag, Kristalleisgebirge und ein Putzmittel

Pluto und sein Mondsystem entpuppten sich vor den Augen der Bordkameras als eine bizarre Welt mit einer bewegten Vergangenheit und vielleicht sogar dynamischen Gegenwart – ein Resultat, mit dem in diesem Ausmaß kein Wissenschaftler zuvor gerechnet hatte und welches ihren Puls buchstäblich beschleunigte: Unter Planetenforschern legendär ist Alan Sterns Ausbruch an Begeisterung, als er die ersten Nahaufnahmen auf dem Bildschirm zu sehen bekam. Jahrzehntelang hatten die Forscher darauf gewartet. Bekannt war von Pluto und Charon bis dato nicht viel, zu klein ist diese ferne Welt selbst für das Hubble-Weltraumteleskop, das nur schemenhaft Helligkeitsunterschiede auf zwei winzigen Lichtscheibchen erkennen ließ. Im Schnitt kommen dort nur fünf Zehntausendstel des Sonnenlichts an, das auf die Erde fällt, die Tagestemperatur beträgt minus 234 Grad Celsius.

Bei diesen Temperaturen frieren die meisten Gase aus. Pluto ist daher von einem Gemisch aus Wasser-, Stickstoff-, Methan-, Kohlenmonoxid-, Kohlendoxid- und Ammoniakeis bedeckt und gegenwärtig, noch in ‚Sonnennähe‘, von einer hauchdünnen Atmosphäre umgeben. Diese besteht aus Stickstoff (mit etwas Kohlenmonoxid und Methan); sie ist – das zeigten die neuen, gegen den Horizont aufgenommenen Bilder – geschichtet und reicht bis in eine Höhe von 1.600 Kilometern. Die mittlere Dichte von Pluto beträgt 1.860 Kilogramm pro Kubikmeter: Daraus lässt sich ableiten, dass Pluto zu mehr als zwei Dritteln aus Gestein und zu 30 Prozent aus Eis verschiedener Zusammensetzung besteht. Das bedeutet, dass die Gesteinsmasse groß genug ist, um nach der Entstehung des Zwergplaneten durch den Zerfall radioaktiver Elemente im Inneren ausreichend Wärme zu erzeugen, so dass sich im Zentrum ein Gesteinskern bilden konnte, der von einer mächtigen Eisschicht umgeben ist. Mehr noch, es könnte genügend Energie vorhanden sein, um auch heute noch dynamische Prozesse in der Eisschicht antreiben zu können.

Tatsächlich blickten die Wissenschaftler zum einen zwar auf eine dunkle Oberfläche, die voller Einschlagskrater war und vermutlich schon vor vier Milliarden Jahren erstarrte; aber auch auf riesige helle kraterfreie Flächen aus blankem Eis, die seit weniger als 100 Millionen Jahren existieren oder teils sogar erst vor kurzer Zeit entstanden sind. Zahlreiche Polygone, die ein wabenartiges Muster in die Eisebene Sputnik Planum zeichnen, werden als erstarrte Konvektionszellen interpretiert, in denen flüssiges oder plastisches Material an die Oberfläche gelangte und ausfror. Und als ob die Natur wüsste, wie eine Landschaft medienwirksam auszusehen hat, gestaltete sie diese über eintausend Kilometer große Eisfläche mit den Umrissen eines Herzens, der man nach dem Entdecker Plutos den Namen Tombaugh Regio gab.

Eine weitere Überraschung war die Entdeckung gewaltiger hochgebirgsartiger Landschaften mit den Norgay und Hillary Montes, Bergen von bis zu 3.500 Metern Höhe, die jedoch nicht aus Stein und Fels bestehen, sondern aus einer Tieftemperatur-Modifikation von Wassereis extremer Härte, die verhindert, dass diese Eisriesen an der Basis durch das Eigengewicht in sich zusammenschmelzen. Das dunkle, rötlich-braune Material im Norden Plutos, das sich auch auf Charon findet, besteht vermutlich aus einer komplexen Mischung organischer Moleküle wie Kohlenstoff, Stickstoff und Wasserstoff, die sich in der Atmosphäre von Gasplaneten, Monden oder Kometen unter der Einwirkung ultravioletter Strahlung und den Partikeln des Sonnenwindes aus dem Oberflächenmaterial bilden. Sie werden „Tholine“ (griechisch für „schlammig“) genannt. Auf Charon identifizierten die Wissenschaftler außerdem Wassereiskristalle, die auch Spuren von Ammoniumhydroxid (NH4OH) enthalten – im Haushalt als Putzmittel unter dem Begriff Salmiakgeist bekannt.

 

Der zweite Streich: Vorbeiflug am 30 Kilometer großen Arrokoth an Neujahr 2019

Arrokoth, aufgenommen am 1. Januar 2019 von New Horizons, 7 Min. vor der engsten Annäherung.
Credit: NASA/JHU-APL/SRI

Nach dem perfekten und wissenschaftlich so ergiebigen Vorbeiflug am Pluto setzte New Horizons seinen Flug durch den Kuipergürtel fort. Diese die acht Planetenbahnen umgebende schlauchförmige Region, gelegentlich auch als Kuiper-Edgeworth-Gürtel bezeichnet, ist die kosmische Heimat eisiger, teils extrem primitiver Körper von wenigen Kilometern Größe bis hin zu mehreren tausend Kilometern Durchmesser. Zwergplaneten wie Pluto, Eris, Makemake und Haumea zählen als bekannte Objekte dazu. Der Kuipergürtel schließt unmittelbar an den äußeren Planeten Neptun an und erstreckt sich ungefähr bis in eine Sonnenentfernung von 18 Milliarden Kilometern. Er ist zugleich das Reservoir für die meisten kurzperiodischen Kometen. Alle Objekte des Kuipergürtels zusammengenommen machen nur einen Bruchteil der Masse der Erde aus.

Bereits vor der Ankunft am Pluto hatte man mit Hilfe des Hubble-Weltraumteleskops ein weiteres transneptunisches Objekt erspäht, das für einen relativ nahen Vorbeiflug nach New Horizons Rendezvous mit Pluto geeignet erschien. Anfangs erhielt das neue Objekt die Kennzeichnung 1110113Y und im Mai 2015, nachdem seine Bahn hinreichend genau bestimmt worden war, die offizielle Bezeichnung 2014 MU69. Im März 2018 wählte das New-Horizons-Team aus eingereichten Vorschlägen „Ultima Thule“ als vorläufigen Namen aus, angelehnt an den nördlichsten Landpunkt der Erde an der Nordspitze Grönlands, ein Ort, um den sich seit der Antike ähnlich viele Geschichten rankten wie um Atlantis. Inzwischen wurde er in „Arrokoth“ umbenannt, was in der Sprache der Algonkin „Himmel“ bedeutet. Arrokoth umkreist die Sonne in einer Distanz zwischen 6,4 und knapp 7,0 Milliarden Kilometern und ist derzeit rund 44 Astronomische Einheiten (1 AE = 150 Millionen Kilometer) von ihr entfernt.

In den Jahren 2017 und 2018 ergaben sich anhand der Beobachtung von Sternbedeckungen durch Arrokoth erste Anhaltspunkte, dass das Objekt möglicherweise aus zwei Körpern besteht, die sich umkreisen. Entscheidend beteiligt an diesen Messungen war auch das Flugzeugobservatorium SOFIA des DLR und der NASA. Die vielversprechenden Voruntersuchungen bestätigten sich, als New Horizons am 1. Januar 2019 mit 14,3 Kilometern pro Sekunde (51.500 km/h) nur 3.000 km entfernt an Arrokoth vorbeisauste und Bilder lieferte, die an die Gestalt des Kerns des Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko erinnerten, auf dem die europäische Rosetta-Landesonde Philae gut fünf Jahre zuvor gelandet war.

Doch erst eine genaue Analyse offenbarte die Andersartigkeit: Während der Kometenkern im Ganzen doch eine gewisse räumliche Tiefe aufweist, sind die beiden Teile Arrokoths von ziemlich flacher Struktur und, wie allerdings auch 67P, kraterarm. Letzteres ist ein starkes Indiz, das uns die Oberfläche einen manifesten Einblick in die Anfangszeit unseres Sonnensystem erlaubt, weil es kaum Veränderungen durch chemische Reaktionen infolge Sonnenlicht oder die bei Einschlägen freigesetzte Energie gab. Und in der Tat zeigen sich bei einer genauen geologischen Analyse der Aufnahmen jene Formationen, von denen man annimmt, dass sie die allerersten „building blocks“ bei der Entstehung der beiden Einzelkörper waren, genau so, wie es die Planetologen schon lange vermuteten.

Die Bilder, die man während des Vorbeiflugs gewann, zeigten, dass Arrokoth zwar aus zwei Einzelkörpern besteht, die aber entlang ihrer Längsachsen zu einer 31 Kilometer großen ‚Erdnuss‘ zusammengewachsen sind, zu einem sogenannten ‚contact binary‘: einem Körper, der sich durch Kontakt mit einem zweiten Körper verbunden hat. Vermutlich ist dies ein im äußeren Sonnensystem häufig ablaufender Prozess, denn auch der von der Rosetta-Sonde der ESA besuchte Komet 67P/Churyumov-Gerasimenko entstand, wie Analysen nahelegen, durch einen sanften Kontakt zweier kleinerer Ursprungskörper. Farblich besteht zwischen den beiden rostbraun getönten Einzelkörpern kein Unterschied, lediglich der gerade noch auszumachende ‚Nacken‘ in der Kontaktzone ist deutlich heller. Die rötliche Färbung beruht Spektralmessungen zufolge auf den Verbindungen Methanol (CH3OH), Blausäure (HCN), Wassereis und einiger Kohlenwasserstoffverbindungen. Wegen New Horizons großer Entfernung ist die Übertragung der Daten vom Vorbeiflug an Arrokoth zur Erde auch nach anderthalb Jahren nicht abgeschlossen und wird noch bis Ende 2020 andauern. Erst dann wird es endgültige Ergebnisse geben.

 

Erste Fixstern-Parallaxenmessung mit einer Raumsonde

Erst jüngst hat New Horizons einen weiteren Rekord gebrochen. Jenseits von Arrokoths Umlaufbahn hat die Sonde in einer Distanz von rund 47 AE zwei nahe Fixsterne angepeilt und so die erste interplanetare Parallaxenmessung ermöglicht, dessen Resultat am 11. Juni bekannt gegeben wurde.

Am 22. und 23. April dieses Jahres machte die Raumsonde fern von Erde und Sonne Aufnahmen zweier Sterne, die unserem Sonnensystem relativ nah stehen, Proxima Centauri und Wolf 359 im Sternbild des Löwen. Vergleicht man die Bilder der Sonde mit denen, die zur gleichen Zeit von der Erde aus im gleichen Sternfeld gewonnen wurden, erkennt man deutlich, wie die beiden Sterne in Bezug auf die mehr als 100fach weiter entfernten Hintergrundsterne jeweils eine geringfügig andere Position einnehmen. Astronomisch bezeichnet man das als Parallaxeneffekt.

„Das trigonometrische Parallaxenverfahren spielte und spielt in der Astronomie eine entscheidende Rolle, denn damit lässt sich gut die Entfernung naher Sterne in einem Umkreis von etwa 100 Lichtjahren bestimmen“, erläutert Dr. Manfred Gaida, Astronom und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). „Dieses Verfahren zur stellaren Entfernungsbestimmung ist gleichsam die erste Stufe auf der kosmischen Entfernungsleiter.“

Das Grundprinzip der Messmethode ist dabei denkbar einfach und lässt sich mit dem Hin- und Herspringen des Daumens einer ausgestreckten Hand vor einer Wand vergleichen, wenn er abwechselnd mal mit dem linken und mal mit dem rechten Auge anvisiert wird. Was im Gesicht der Abstand der Pupillenmitten ist, ist bei den Astronomen der doppelte Erdbahnhalbmesser, also zweimal die große Halbachse der Erdbahnellipse oder zwei Astronomische Einheiten (AE), das heißt rund 300 Millionen Kilometer. Misst man die Position eines relativ nahen Sterns von zwei weit auseinanderliegenden Positionen auf der Erdbahn, z.B. im Frühjahr und im Herbst, lässt sich trigonometrisch die Distanz zu dem Stern ermitteln.

 

Stellarer Parallaxeneffekt mit einer Basislinie von sieben Milliarden Kilometern

Mit New Horizons konnte nun die Basislinie von 1 AE auf gut 47 AE vergrößert werden. Dadurch „springen“ Proxima Centauri und Wolf 359 bei wechselnder Betrachtung der Erd- und Raumsondenaufnahmen auffallend vor den Fixsternen im Hintergrund hin und her – eine erst- und einmalige Visualisierung des stellaren Parallaxeneffekts, die vorher so nicht möglich war. Dem Projektleiter von New Horizons, Alan Stern, und seinem Team ist damit eine Meisterleistung in der experimentellen Astronomie gelungen.

Da Parallaxenwinkel sehr klein sind, d.h. bezogen auf den Erdbahnhalbmesser weniger als eine Bogensekunde betragen und der parallaktische Effekt von vielen anderen physikalischen Effekten wie zum Beispiel von der Aberration und der Eigenbewegung des Sterns überlagert wird, hat es lange gedauert, bis die erste Bestimmung einer Fixsternparallaxe glückte und dadurch die Tiefendimension des Kosmos erschlossen werden konnte. Viele Abschätzungen wurden jahrhundertelang unternommen, die Entfernung der Sterne auszuloten, doch erst ab dem Jahr 1835 kam der Durchbruch: Nahezu gleichzeitig und unabhängig voneinander führten die drei Astronomen Friedrich Georg Wilhelm von Struve (1819-1905), Friedrich Wilhelm Bessel (1784-1846) und Thomas Henderson (1791-1844) Parallaxenmessungen durch: Struve von der Sternwarte Dorpat aus an dem hellen Stern Wega im Sternbild Leier, Bessel von Königsberg aus an dem Stern 61 Cygni im Sternbild Schwan und Henderson am Cape Observatorium an α Centauri. Bessel hatte dabei mit 61 Cygni einen Stern ausgewählt, der durch eine hohe tangentiale Eigenbewegung von 5,2 Bogensekunden pro Jahr auffiel und es daher plausibel erschien, dass dieser Stern relativ sonnennah war. Bessel war es schließlich auch, dem man später die erste von der umfangreichen Datenlage her verlässliche Bestimmung einer Fixsternparallaxe zuschrieb, ohne dass es mit Struve oder Hendersen zu einem Prioritätenstreit über die Erstentdeckung kam.

Von Königsberg aus, der Heimatstadt Immanuel Kants, begann Bessel seine Untersuchungen im August 1837. Als Beobachtungsinstrument diente ihm dabei ein Heliometer des bayrischen Technikers Joseph von Utzschneider (1763-1840) und des berühmten Münchner Optikers Joseph von Fraunhofer (1787-1826), mit dessen Hilfe kleine Winkelabstände zwischen 61 Cyg und zweier benachbarter Sterne sehr genau gemessen werden konnten. Bis Oktober 1838 hatte Bessel insgesamt 183 Anschlüsse an den Positionen der beiden Nachbarsterne vorgenommen und konnte damit für 61 Cyg eine Parallaxe von 0,3136 ± 0,0202 Bogensekunden bestimmen, ein Wert, der bis heute auf 0,2859 ± 0,0001 Bogensekunden verbessert wurde. Ihm entspricht eine Distanz von 3,5 Parsec, dem Kehrwert des Bogensekundenwertes, oder von knapp 11 Lichtjahren von der Sonne. Damit gehört 61 Cygni zu den 20 sonnennächsten Sternen.

Elf Lichtjahre entsprechen unvorstellbaren 104 Billionen Kilometern. Die Distanz zu dem der Sonne nächstgelegenen Stern, Proxima Centauri, ist etwas geringer und beträgt „nur“ 4,2 Lichtjahre oder 40 Billionen Kilometer, und zu dem Stern Wolf 359 sind es auch nur knapp acht Lichtjahre. Im Vergleich zum Durchmesser der Milchstraße von hunderttausend Lichtjahren sind diese Distanzen winzig klein, gemessen an den Abständen im Sonnensystem aber riesig.

Proxima Centauri am Südsternhimmel kann von Europa aus nicht beobachtet werden, sondern nur von Standorten aus, die südlicher als der 27. nördliche Breitengrad liegen. Der Stern hat eine geringe scheinbare Helligkeit elfter Größenklasse und wurde im Jahr 1915 von Robert Innes (1861-1933) in Johannesburg mit Hilfe eines Astrographen entdeckt. Innes fand heraus, dass die Eigengeschwindigkeit des neuentdeckten Sterns nahezu dieselbe ist wie bei α Centauri und schloss daraus, dass beide Sterne gravitativ zusammengehören. Er vermutete auch, dass Proxima Centauri der Sonne noch ein wenig näher stünde als α Centauri, der selber ein Doppelstern ist. Nachgewiesen wurde dies allerdings erst später durch den amerikanischen Astronomen Harold Lee Alden (1890-1964); nach ihm ist ein Krater auf der Mondrückseite benannt. Seit dem Jahre 2016 ist auch bekannt, dass Proxima Centauri von einem erdgroßen, planetaren Begleiter in elf Tagen umrundet wird.

Wolf 359 am nördlichen Fixsternhimmel, auch als CN Leonis oder Gliese 406 bekannt, ist ein roter Zwergstern mit einer scheinbaren Helligkeit der 13,5ten Größenklasse. Sein Name geht auf den Heidelberger Astronomen Max Wolf (1863-1932) zurück, der im Juni 1919, in demselben Jahr, in dem Albert Einstein durch den Nachweis der Lichtablenkung am Sonnenrand berühmt wurde, einen „Katalog von 1053 stärker bewegten Fixsternen“ in den Veröffentlichungen der Badischen Sternwarte zu Heidelberg publizierte. Der darin aufgeführte 359. Stern ist derjenige, der jetzt, nachdem er bereits durch Raumschiff Enterprise bekannt wurde, von New Horizons erneut in das Licht der Öffentlichkeit gerückt ist.

Während man bei einer erdgebundenen Parallaxenbestimmung im Laufe eines halben oder ganzen Jahres viele zeitlich aufeinanderfolgende Positionsmessungen an einem bestimmten Stern durchführt, um aus der „Widerspiegelung“ der Erdbahnellipse an der Himmelsphäre seine Entfernung zu berechnen, liegen bei der jetzigen interplanetaren Parallaxenmessung praktisch nur zwei gleichzeitig gewonnene Messpunkte vor, die jedoch 47 Astronomische Einheiten voneinander entfernt liegen. Da ein Parsec die Distanz ist, von der aus der Erdbahnhalbmesser (1 AE) unter einem Winkel von einer Bogensekunde erscheint, beträgt dieser Winkel, übertragen auf die Basislänge Sonne-New Horizons in erster Näherung nun das 47fache. Bezogen auf 1 AE beträgt für Wolf 359 die Parallaxe 0,415 und für Proxima Centauri 0,769 Bogensekunden. Im Unterschied zum Erdbahnwert wurden jetzt 16 Bogensekunden für Wolf 359 und für Proxima Centauri 32 Bogensekunden gemessen.

Auch wenn New Horizons Parallaxenmessungen keine Verbesserung der bereits bekannten Entfernungswerte liefern, sondern vor allem verdeutlichen sollen, wie sich der uns gewohnte Anblick des Sternenhimmels in größerer Distanz von der Erde perspektivisch verändert, so eröffnen sie doch langfristig neue Anwendungsmöglichkeiten – die interstellare Navigation. Mit einem Sternkatalog an Bord eines Raumschiffes, der als Referenz die erdbasierten Sternörter enthält, könnten anhand solcher Messungen Raumsonden sicher durch interstellare Weiten navigieren, wie einst die Seefahrer anhand der Gestirne über unbekannte Meere. Aber auch die Idee, die auf den berühmten amerikanischen Physiker Freeman Dyson (1923-2020) zurückgeht, Raumschiffe systematisch für stellare Parallaxenmessungen mit einer größeren Basis als die Astronomische Einheit zu verwenden, erfährt durch New Horizons Messungen eine Renaissance. Clyde Tombaugh, von dessen Asche der Sonde etwas mitgegeben wurde, wäre zweifellos über die Verwirklichung solcher Pläne sehr angetan. Die kleine Raumsonde New Horizons hat zweifellos ihrem Namen alle Ehre gemacht und uns allen wahrhaft neue Horizonte eröffnet.

 

Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)